Hörenswert: DIE NERVEN – “DIE NERVEN”
Die aktuell beste Band Deutschlands sind drei bleiche weiße Jungs, die sich mit schnurgeradem (Post-)Rock unheimlich präzise und grundsätzlich dagegen ins Gewissen unserer Generation prügeln. DIE NERVEN sind auf ihrem fünften Album erfrischend und unbehaglich, Aufruhr-stiftend und lähmend zugleich. Dem Unbehagen entgegen, mit Punk, Noise und vollendeten Gegenwartsbetrachtungen mit Schaum vor dem Mund.
Hörenswert. RF-Album der Woche ist zu hören am Freitag, 14.10.22 ab 14.06 Uhr, Wiederholung am Donnerstag, 20.10.22 ab 00.00 Uhr
Gitarre, Schlagzeug und Bass wüten gegen bürgerliche Selbstgerechtigkeit, gegen die Enge und Engstirnigkeit, gegen c‘est la vie und sich selbst. Erstarrung angesichts der Aussichtslosigkeit der Welt und der Selbstverschuldung der Situation. „Ich könnte überallhin gehen, aber kann mich nicht bewegen“ – tell me more. Der Sound der Zeit, die Großbuchstaben schreien zurecht.
Kevin Kuhn hat viel zu tun.
Kevin Kuhn ist einer der tightesten und melodischsten Drummer derzeit überhaupt und peitscht auch bei Gordon Raphael und Wolf Mountains. Bassist Julian Knoth avantgardisiert mit dem Peter Muffin Trio und Yum Yum Club und Max Rieger ist nicht nur großartig mit seinem Solo-Projekt All Diese Gewalt sondern auch als Produzent von Casper, Drangsal, Die Selektion oder Friends Of Gas unterwegs und befreit die Musikindustrie von vorhersehbarer Plastikware.
Rund um die Stuttgarter Noise-Szene fanden sich 2010 DIE NERVEN erst als Duo aus Knoth (Bass, Gesang) und Rieger (Gitarre, Gesang) mit Lo-Fi zusammen und formierten sich mit dem Einstieg von Kuhn langsam aber stetig als eine Art Neudefinition der deutschen Krawall-Kultur. Die Aufgabe: Sollbruchstellen finden und mit etwas fiebriger Wut reintreten. Tocotronic spielten schon im Musikvideo zu „Angst“ vom Album „Fluidum“ von 2012, Spex und laut.de lobten das Album in höchsten Tönen, für das Theaterstück „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ schrieben sie die Musik, in den USA gelten Einreisesperren für Rieger und Kuhn und seit „Fluidum“ gelten eigentlich alle folgenden Alben bei renommierten Musikzeitschriften als beste des Jahres. Und trotzdem sind DIE NERVEN immer noch eine Art Underdog. Sind die unbequemen Themen wirklich so mainstream-ungeeignet? Fragen sich DIE NERVEN (nicht) und dreschen rein.
Ich dachte irgendwie, in Europa stirbt man nie.
Auf dem fünften Album geht es um das Unbehagen der ungefragten Aufdrängung neuer Weltwahrnehmungen, um den allumgreifenden Kapitalismus, die neuen Selbstwahrnehmung als Konsumwesen, das relativ unhinterfragend dem Diktat der Konzerne folgt. DIE NERVEN zerschlagen die Wurzeln dieser Entwicklung brachial und zeitlos, ihr Debütalbum OUT von 2015 ist noch ebenso aktuell wie FAKE von 2018. Der Schäferhund am Cover, Titel wie „Europa“, „Ich sterbe jeden Tag in Deutschland“ oder “Ein Influencer weint sich in den Schlaf” lassen vermuten, dass die Sorge um den Zustand der Welt eher wächst als schrumpft. Depressionsmetaphern oder deutsche Verhältnisse? Man lebt in der heilen Welt des Mittelstandes und bemerkt fast zu spät, dass irgendetwas nicht stimmt.
Böses Erwachen, Generation der Narzissten, social flu, Resignation aus Reizüberflutung und Völlerei. Wären die Totsünden nicht so pathetisch abgenudelt, wären sie wunderbar als Not-to-do-Liste anzuführen, die DIE NERVEN zur aktuellen Zeit der vollkommenen Ahnungslosigkeit porträtieren.
Die Stimmung riecht nach begrenzter Lebenserwartung.
DIE NERVEN sind wie ein Rausch, den man erst verkatert am nächsten Morgen so richtig reflektiert und gleichermaßen traurig wie erleichtert ist, dass er vorbei ist. Die meisten Songs wurden vor 2020 geschrieben, prophetisch wollen DIE NERVEN aber nicht sein, sterben ist schließlich nichts Neues in der Welt. Was uns anzieht ist der Sound vom Spirit der verlorenen Jugend, der aber gar nicht verloren wirkt sondern eher alles anzünden möchte, nur um danach die Welt ein Stück besser wieder aufzubauen. Das ist der Soundtrack der Zeit, das sind DIE NERVEN. Sie sind als eine der wenigen Bands in der Lage, selbst die kontrolliertesten, abgestumpftesten, hartgesottenen und abgeschlagenen Gemüter wieder zum Leben zu erwecken und sorgen dafür, dass bei Konzerten kein Fuß am Boden bleibt. Da kannst du dich noch so bemühen, wetten?
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Termin:
24. November 2022, ARGEkultur!
Später geht man raus und hat wieder Hoffnung, dass alles vielleicht doch nicht so schlimm wird.
„DIE NERVEN“ von DIE NERVEN ist am 7. Oktober bei Glitterhouse/Indigo erschienen.
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