Nachtfahrt: Originale Kopien
Freitag, 8. Juni 2012 ab 22:00 Uhr: Die Perlentaucher Nachtfahrt wandelt auf den Spuren eines Zitats von Edward Young: “Wir werden als Originale geboren, sterben aber als Kopien”, mit dem auch Arno Gruen seinen legendären Vortrag “Von der Schwierigkeit, sich selbst zu sein” beendete. (Nachzuhören in der Artarium Sendung “Der Wahnsinn der Normalität”) – Dazu präsentieren wir musikalische Originale wie “das trojanische pferd” sowie ein hintergründiges Gespräch mit ihrem Sänger und Bombenleger Hubert Weinheimer über Wahrheit, Naivität, Arschlöcher und originäres Trojanertum, vergraben uns tief in Coverversionen, die nicht bloß billige Kopien sind und verirren uns naturgemäß heftig im Spiegelkabinett der Wirklichkeiten. Schon wieder eine kritische Theorie? Aber diesmal mit Praxis:
Unsere Sprache ist ein erweitertes Sinnesorgan. Bereits im Mutterbauch können wir den emotionalen Gehalt ganzer Sätze erfassen, unterscheiden und verarbeiten. Also, “Pass auf, was du sagst, denn wir wissen längst Bescheid.” Das Gehör-Gespür ist der erste voll ausgebildete Sinn des Menschen. Daher Musik, daher Radiosendung!
Wenn allerdings die emotionale Perzeption des Ungeborenen ein umfassendes Verstehen des Gesagten und Gesungenen bedeutet, wie in des Wahnsinns Namen kommen wir zu der Vorstellung, dass man Kindern Sprache als Wortbedeutung erst mühsam (und gegen ihre eigene Auffassung) beibringen müsse? Anders ausgedrückt, egal ob wir an einen Gott glauben oder nicht, so erachten wir doch die Nachrichten von der Weltfinanzkrise gemeinhin für bedeutsamer als ein Gedicht von ernst Jandl. In Wirklichkeit würde aber genau andersrum ein Schuh draus. Oder ein Pferd…
“Language is a virus from outer space”, teilt uns die Spoken-Word-Pionierin Laurie Anderson mit. Und Antoine de Saint Exupéry kommt in seinem existenzialistischen Kinderbuch für Erwachsene “Der kleine Prinz” zu der Feststellung, “Die Sprache ist die Ursache aller Missverständnisse.” Wenn sich also der Befund kindsköpfischer Künstler mit den Erkenntnissen der Kulturantropologie dahingehend deckt, dass unser zivilisatorischer Funktionssprech zur Abspaltung von Affekt und Emotion führt, dann wird die Muttersprache zur gefickt eingeschädelten Scheinwelt und die trojanische Lyrik zur notwendigen Gegenmaßnahme im Ringen um Realität.
Auf einmal begreifen wir im Wiedererwachen kindlicher Intuition, dass uns da eine Weltsicht vorgehüpft wurde, die nichts mit der Wirklichkeit unseres Empfindens zu tun hat, sondern nur mit den Erfolgsaussichten derer, die uns zwecks Ausnutzung beherrschen. Insofern ist der wahre Dichter, Künstler, Outsider derjenige, der die äußere Welt innerlich zusammen hält und so die Hoffnung auf eine sinnstimmige Zukunft verkörpert. Insofern sind wir, die wir ihm darin folgen und zwischen seinen Zeilen unser eigenes Leben spüren, diejenigen, um die sich die Welt dreht.
Insofern sind wir auch bedeutsamer, relevanter und vor allem wichtiger als Kasperl Faymann oder die Festspielpräsidentin. Insofern sind wir alle, die wir “wie die Kindlein” in die Welt blicken und an unsere eigene Wahrnehmung glauben, im Grunde ganz und gar Jesus: “Und siehe, wir machen alles neu!” Das Allerschärfste dabei ist allerdings, dass wir auf diese Weise auf einmal wirklich frei sein können und im ursprünglichsten Wortsinn autonom. Denn wenn uns “Pflicht und Schuldigkeit” von vorn herein unter Vorspiegelung falscher Sprach-Tatsachen und in betrügerischer Absicht ins Bewusstsein geschwindelt wurden, dann ist jede Übereinkunft, jeder Vertrag und jede gesellschaftliche Konvention in sich selbst widersinnig, sittenwidrig und somit ungültig. Die Welt muss also völlig neu verhandelt werden! Wenn das keinen Pop-Song wert ist …
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