Hörenswert: Brezel Göring – „Friedhof der Moral“
Brezel Göring reitet wieder aus!
Nach „Psychoanalyse (Volume 2)“ von 2022, einer herzzerreißenden Dada-Trauerbewältigung, besucht das Marswesen, die Grand Dame des Berliner Chansons, die von Stereo Total auf dieser Welt geblieben ist, den „Friedhof der Moral“ – sexuell aufgeladen, mit Schmiss, guter Laune und dem schlussendlichen Begraben der Moral.
Hörenswert. Das RF-Album der Woche ist zu hören am Freitag, 27.9.24 ab 14:06 Uhr, Wiederholung am Donnerstag, 10.10.24 ab 00:00 Uhr
An der Straßenecke traf ich den Frühling. Ich sagte zu ihm: „Hau ab.“
Gewohnt kryptisch und provokant setzt Brezel Göring seine unwiederbringliche Reise in die Dunkelheit fort. Vor zwei Jahren, nach dem Tod von Françoise Cactus, war diese Dunkelheit geprägt von einsamen Nachtstunden, von Ohnmacht, Lähmung und Psychoanalyse – auf „Friedhof der Moral“ geht die Trauer eine andere Richtung, aber bleibt dem Abgrund nahe, zugegeben mit schon relativ viel Spaß.
Die Platte brüllt rein ins Chaos, nicht um den Verlust eines Menschen, sondern um den allgemeinen moralischen Verfall der Welt, der auf nun den Friedhöfen unserer Werte verwest. Die Platte wurde dieses Mal auch Nachtens, aber räudig, laut und in rasanter Hysterie aufgenommen und die Psychoanalyse ist in Form von Görings Band geblieben, eine illustre Truppe an Musiker*innen und Sänger*innen aus Kreuzberg, Taiwan, Frankreich, Chile und dem Sorbenland. Brezel Göring blickt auch selbst nicht mehr ganz durch, was er mit „Psychoanalyse“ und den fortlaufenden Nummern nun genau macht. Aber es scheint, der Nihilismus und die Depression haben einen kleinen fröhlichen, etwas durchgeknallten, aber liebenswerten Assistenzhund bekommen.
Ihr seid alle Teil meines Problems
Die kreative Verwirrung hat Methode, auf den Wellen einer Chaostheorie schaukelt Göring lyrisch auf poetischen Wutausbrüchen und mit scharfer Beobachtungsgabe auch über eine Untersuchung der Popmusik, mit ihren Wiederholungen, ihrer egozentrierten Erzählperspektiven und der immer negativen Sicht auf die unmittelbare Lebenswelt. „Das klingt ja wie eine exakte Beschreibung meiner neuen Platte!“, denkt sich Göring und bohrt rein in die zerbröckelnden Fundamente der Gesellschaft, mit Melancholie und schwarzem Humor.
„Friedhof der Moral“ ist nicht belehrend, im Gegenteil: Das Album offenbart in extremer Weise alle Facetten die Bruchstellen einer Menschheit in moderner Zivilisation, und das querbeet durch alle Bereiche. Referenzen zu Klassik, japanischen Blues, Diskomusik, Punk, Hiphop und französischen Chansons sorgen für filmische Kurzszenen und musikalische Feuerwerke zwischen Psych, Punk, Pop, Kurzweiligkeit und Schönheit.
Wäre ich ein UFO, ich würde niemals über dieser Scheißstadt kreisen
Gleich zu Beginn fliegen wir durchs All und durchqueren das komplette Planetensystem („Such dir einen Arzt“) sowie sexuell aufgeladenen Gedanken, fahren später über Italien, Frankreich („Visiteur spectaculaire“: Ein fernes Echo / fließende Gedanken / erreichen meine Gegenwart / Diskontinuität von Raum und Zeit / Spektakulärer Besucher in meinem Rückspiegel / Gruß aus der Vergangenheit / ich hatte dich schon fast vergessen mit einer gewissen Eleganz / materialisiert sich deine Gegenwart / Licht und Bild aber keine Substanz / Beweis deiner Nichtexistenz) und Griechenland direkt nach „Tschernobyl“ (Ich will so sein wie Gudrun Ensslin / das Scheißkaufhaus anzünden), machen Halt im Stundenhotel („Apokalypse“), bleiben doch lieber in Berlin, schwanken die (Kreuzberger) Oranienstraße lang und treffen an der Straßenecke auf den Frühling, um dann wie ein Ufo über dieser beschissenen Stadt zu kreisen und schließlich setzt sich die Reise düster und melancholisch ins Jenseits fort … mit zartem Gesang und lieblichen Melodien klingt die Platte mit einem Abschiedslied an Françoise Cactus aus.
Sehnsüchtig, aber sanft schreiten wir bis zum Schluss über den Friedhof und gießen die Blumen.
„Friedhof der Moral“ von Brezel Göring ist am 20. September 2024 bei Stereo Total Records / Flirt 99 erschienen.
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