Hörenswert: Fat White Family – „Forgiveness Is Yours”
An den Grenzen des kreativen Talents, aber auch an den Grenzen von Gesundheit, Verstand und Existenz: Die Fat White Family ist zurück!
Die Süd-Londoner, die in der Vergangenheit vor allem mit Skandal-Shows, originellen Einsätzen von Körperflüssigkeiten und sexuellen Anspielungen auf sich aufmerksam machten, bringen mit „Forgiveness Is Yours“ ihr bisher anspruchsvollstes, vitalstes und extravagantestes Werk unter die Leute.
Hörenswert. Das RF-Album der Woche ist zu hören am Freitag, 24.5.24 ab 14:08 Uhr, Wiederholung am Donnerstag, 30.5.24 ab 00:00 Uhr
Vom Dreck zur Ekstase
2011 gründete Frontman Lias Kaci Saoudi gemeinsam mit (dem inzwischen verstorbenen) Saul Adamczewski und Joseph Pancucci-Simpson die Fat White Family mit der Intention, die vernachlässigte Macht des Mythos im Rock’n’Roll wiederzubeleben und der notwendigen Schaffung von etwas, an das die Menschen glauben können – abseits von fader Pop-Monokultur. Mit Provokation, Argheit, ein bisschen urban legend telling und jedenfalls mit sehr viel von dem, was nicht eintöniger Standard ist – kurz mit Übertreibung und Selbsterniedrigung, mit Post-Punk, Rock’n’Roll, Psychedelic und instinktiv wild.
Das Debüt von 2013, „Champagne Holocaust“, war eine wilde Ansammlung von morbider Brillanz und riotischem Lärm, nach „Songs For Our Mothers“ von 2016 macht FWF 2019 mit „Serfs Up!“ einen radikalen Sprung in Sound und Sensibilität holt sich auch für die zarter Besaiteten aus der Skandaleckte. Die äußeren Feinde sind nun weg, ob sie real oder nur Halluzinationen waren, kann später niemand mehr sagen.
Nun zeigt sich ihre musikalische Vielfalt immer deutlicher: Fat White Family hat in den letzten Jahren „The Shawshank Redemption“ auf ihren Handys via Instagram neu verfilmt, Liam Gallagher bei seiner größten Soloshow in Knebworth unterstützt und einen exquisiten, bergmännisch angehauchten Kurzfilm „Moonbathing“ gedreht. Lias Saoudi profilierte sich als unterhaltsamer Prosaautor, mit seiner Kolumne für The Social, ‚Beyond the Neutral Zone‘, und durch die Zusammenarbeit mit der Autorin Adelle Stripe an einem der großen Rock’n’Roll-Bücher dieses oder jedes anderen Jahrzehnts, „Ten-Thousand Apologies: Fat White Family and the Miracle of Failure“.
Feed The Horse
Immer noch twisted, aber auf eine fast schon hypnotische Art ist „Forgiveness Is Yours“ die Musik, die man macht, wenn man am Ende seiner Kräfte und am Ende der Welt ist. Nach dem Prolog „The Archivist“ eröffnet „John Lennon“ mit Querflöten, treibenden Bässen und schrägen Gitarrenriffs, wahnwitzig und Lias erzählt, wie er auf Ketamin Yoko Ono trifft und vom Geist des verstorbenen Beatles besessen wird.
Alles klar. „Polygamy Is Only For The Chief” ist glamourös und lustvoll, kracht ordentlich industriell und erinnert ein bisschen an Prince. „Visions of Pain“ ist schönstens art-rockig und haucht sich durch eine Litanei von Albträumen über einen fröhlichen Bossa-Nova-Beat. „Religion For One“ bringt zwischenzeitlich wieder den zwischenmenschlichen Groll, narzisstische Isolation, kleinlichen Betrug und brennenden Hass auf den Teller, damit das alles nicht zu positiv wird. So ist „Forgiveness Is Yours“ genauso wie die Band immer noch roh, ungeschliffen und manchmal schwer zu verdauen, aber gerade das macht sie so unwiderstehlich.
You Can’t Force It
„Forgiveness Is Yours” ist mehr eine Erfahrung als ein Album. Man ahnt es nicht nur mehr, man weiß, dass es nie einfacher werden wird. Und: Es wird noch schlimmer! Das Album lehnt sich auch an, an die Lage der britischen/jeder Nation, ist eine Aufzählung von Demütigungen der Zeit, in der alles aus den Fugen geraten ist. Doch ist das Album dem Leid seiner Schöpfer zum Trotz eine wahre Freude und zeugt von musikalischer Schönheit, ist tief und intensiv wie dunkler Rum. Wenn man lange genug aus dem Drogennebel herausgekommen ist, um zu erkennen, dass der Schaden irreparabel ist, dann bleibt nur die Erkenntnis: Alles ist kaputt, alles ist brillant.
„Forgiveness Is Yours” von Fat White Family ist am 26. April 2024 bei Domino Recording erschienen.
„die Musik, die man macht, wenn man am Ende seiner Kräfte und am Ende der Welt ist“ – sehr schön formuliert! Mich hat das Album auch sofort überzeugt. Für besonders erwähnenswert in Sachen ‚Albtraum‘ halte ich vor allem noch das brutale „Today You Become Man“ (in dem es um eine Beschneidung im Alter von 5 Jahren geht; ohne Betäubung). Nackt, roh, chaotisch, widerlich, nahezu unerträglich.