Hörenswert: Fire! Orchestra – „Exit!“
Saxofonist Mats Gustafsson hat aus seinem allseits bekannten und viel gelobten Trio eine knapp 30 Musiker starke Bigband geformt, die uns in betörende und Teils auch verstörende, aber immer überaus beeindruckende Soundwelten entführt.
Die stets wechselnden Klangquellen scheinen dem, der sich auf diese über 44 minütige orchestrale Reise einlässt, etwas Geheimes zuzuflüstern. Etwas, was irgendwie nach anderen Dimensionen oder Welten zu klingen scheint. Ein brachiales und zugleich enorm feingliedriges Meisterwerk.
Hörenswert. Das RF-Album der Woche ist zu hören am Freitag, 26.04.13 ab 14:08 Uhr, Wh am Donnerstag, 02.05.13 ab 00:00 Uhr.
Ach wie sehr kann man sich über einen solchen, alle ökonomischen Zwängen verachtenden Ansatz freuen: in Zeiten, in denen schon mehr als drei Musiker Luxus und kaum Live zu verkaufen sind, findet sich eine Bigband zusammen, bei der sich schon allein die Rhythmusgruppe aus vier (!) Schlagzeugern und vier (!) Bassisten zusammensetzt. Mats Gustafsson scheint sich glücklicherweise eher damit zu beschäftigen, wie man gute und interessante Musik machen kann. Das ist wohl auch bei einigen (Salzburger) Konzertveranstaltern bekannt, die den Mut besitzen, diesen großartigen Musiker auch zu buchen und das Risiko eingehen, mit zweistelligen Besucherzahlen rechnen zu müssen. Denn auch wenn Gustafsson mit „The Cherry Thing“ Neneh Cherry zu einer Art ‚Comeback‘ verholfen hat: Nein, für Easy Listening ist der schwedische Free -Jazz-Saxofonist nun wirklich nicht bekannt. Und dieser ist auch auf „Exit!“ nicht zu hören.
Doch lässt sich andererseits auch kaum adäquat ausdrücken, was den Hörer bei diesem Album erwartet. So komplex, vielschichtig und facettenreich ertönen hier die Klangwelten, die genau genommen jeglicher Kategorisierung spotten.
„Exit!“ besteht aus zwei sehr langen Teilen („Part 1“ und „Part 2“), die somit ziemlich genau auf eine Langspielplatte passen würden. „Part 1“ baut sich um einen tragenden und schweren Ostinato-Basslauf auf, der (fast) den gesamten knapp 20 Minuten nicht nur das Fundament gibt, sondern auch als Schablone fungiert, über die wie in ein Kaleidoskop diverse Musikstile einfallen und mit denen sogleich auch wieder gebrochen wird. Mariam Wallentin (Vgl: „Hörenswert vom 12.03.2009: Wildbirds & Peacedrums – „Heartcore“) und Sofia Jernberg hauchen „Part 1“ zusätzlich noch vokales leben ein. (Letztere erinnert ob ihres Ausdrucks ein wenig an Björk). Der Rest besteht aus verwegenen Bläserfanfaren, die recht frei aus allen Richtungen zu kommen scheinen, sowie unzähligen (jedenfalls diesen Rahmen sprengenden) Klangquellen, die nicht minder rasant und kühn immer wieder das geschehen anfeuern. Herauszuheben sind hier die drei Gitarristen (Andreas Söderström, David Stackenäs und Sören Runolf), die dieser Soundorgie mit ihrem zum Teil recht expressiv-rockigen Spiel eine wunderbar elektrische Klangdimension verleihen.
All diejenigen, denen „Part 1“ schon zu expressiv war, sollten es gleich ganz mit diesem Album lassen. Denn „Part 1“ ist der groovige Teil! „Part „2“ ist trotz einer rhythmischen Grundstruktur, die recht lange gehalten wird, der experimentelle Teil vor dem der ungeübte Hörer gewarnt werden sollte. Dekonstruktion ist hier Programm: Nach einer über 11 minütigen rasanten Verdichtung legt sich das Gewitter und die Zeit für phonetische und klangliche Experimente ist gekommen. So scheinen plötzlich Ziegen zu meckern, die von jeder Menge geräuschhaften freien Bläserstakkatos unterbrochen werden. Zum Schluss hin schaukelt sich das Ganze wieder zu einem völlig entfesselten Orkan auf. „Exit!“ ist hier wohl programmatisch zu verstehen.
Liebhaber des Free-Jazz werden sich bei vielen Klangerscheinungen erinnert fühlen an die ganz großen dieser Musik wie Cecil Taylor, Sun Ra oder Pharoah Sanders. Aber „Exit!“ steht dann doch sehr eigen wie ein Monolith im freien Raum. Es handelt sich eben auch um ein europäisches Kunstprojekt, das aufgrund seines absolut betörenden Charakters und vor Allem der alles durchdringenden faszinierenden Haltung der Musiker als ein Meilenstein der freien europäischen Kunstmusik angesehen werden kann. Ein Meisterwerk.
Alto Saxophone – Anna Högberg
Baritone Saxophone, Clarinet – Fredrik Ljungkvist
Bass – Dan Berglund, Joe Williamson, Joel Grip
Bass Saxophone – Jonas Kullhammar
Drums – Andreas Werliin, Johan Holmegard, Raymond Strid, Thomas Mera Gartz
Electric Bass – Johan Berthling
Electronics – Joachim Nordwall
Guitar – Andreas Söderström, David Stackenäs, Sören Runolf
Organ – Tomas Hallonsten
Piano, Electronics – Sten Sandell
Tenor Saxophone – Elin Larsson
Tenor Saxophone, Electronics – Mats Gustafsson
Trombone – Mats Äleklint
Trumpet – Emil Strandberg, Magnus Broo, Niklas Barnö
Tuba – Per Åke Holmlander
Voice – Mariam Wallentin, Sofia Jernberg
Voice, Guitar – Emil Svanängen
Das Album ist am 22. Februar 2013 auf Rune Grammophon erschienen.
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