Hörenswert: The Notwist – „Vertigo Days“
Immer noch Pandemie, aber wenigsten mit The Notwist. „Vertigo Days“ ist Soundtrack und Therapie, ein Album zum Träumen und auch zum Jammern, in der surrealistischen Zwischenwelt der Zeit.
Nach 7 Jahren mit neuer, warmer Soundästhetik und einer neuen Offenheit, die uns in jeder Hinsicht zugute kommt.
Hörenswert. Das RF-Album der Woche ist zu hören am Freitag, 29.01.21 ab 14:08 Uhr, WH am Donnerstag, 04.02.21 ab 00:00 Uhr.
The Notwist ist die deutsche Band, die nicht nach Deutschland klingt.
32 Jahre The Notwist – 1989 von den Brüdern Markus und Micrha Archer als Schülerband gegründet, mitten in der DIY-Generation zwischen Weilheim und Landsberg. Anfangs als Mischung aus Neil Young und Dinosaur Jr., dann 1990 Punk, Rock und Metal mit dem selbstbetitelten Debütalbum. „Nook“ 1992 bekommt bei Visions 6 von 5 Punkten. (!) Bei „Shrink“ 1998 integriert sich schließlich Elektronik, Jazz und Minimalismus, „Neon Golden“ 2002 verfeinert das neue Konzept weiter. „Close To The Grass“ erweitert 2014 erneut die eigene Sounddefinition: zurück zur Ungeschliffenheit, zur Rauheit und zu friemelnden Schrammeln und Störgeräuschen.
Und nun folgt 7 Jahre nach dem letzten Album „Superheroes, Ghostvillains + Stuff“, das im Leipziger Conne Island aufgenommen wurde, „Vertigo Days“. Das Album endet im letzten Song mit einer japanischen Blasmusikkapelle. Soviel dazu, never stop changing.
Long distance listening experience.
Mit seiner jazzigen Hinwendung erinnert „Vertigo Days“ wieder an „Shrink“ und „Close To The Grass“, ist ruhig und schwelend gleichzeitig, grenzüberschreitend und wie immer wahnsinnig beruhigend.
Der loopende Beat als Konstante, ebenso die Vielsprachigkeit, die Kontraste. Wie ein beiläufiges Konzept fließen die Songs ineinander, wie diese Einblendungen in Filmen, wo scheinbar altes Videomaterial schnell geschnitten abgespielt wird. Poetische Abstraktionen, die einerseits für den Stillstand, andererseits für Extreme gemacht sind.
„Man realisiert irgendwann, dass alles sich von einem Schlag auf den nächsten ändern kann und nichts festgeschrieben und garantiert ist. Und man merkt, dass es sich ja ins Positive genauso wenden kann.“
Al Norte / Al Sud.
„Vertigo Days“ bricht mit einigen Notwist-Gewohnheiten. Die Sprache ist nicht mehr nur englisch, erstmals finden sich auch Lyrics auf deutsch auf der Platte, ebenso dringt die Multinationalität der vielfältigen Gastmusiker*innen durch die Zeilen und die Musik: Die japanische Sängerin Saya, der US-amerikanische Multi-Instrumentalist Ben LaMar Gay, die Jazz-Klarinettistin Angel Bat Dawid und die argentinische Ausnahmesängerin Juana Molina unterstreichen einmal mehr die Internationalität und gleichzeitig Ortlosigkeit von The Notwist.
Jetzt, da du weißt, dass die Sterne nicht fix sind, sind auch die Straßen nicht mehr gerade.
„Die politische Großwetterlage hat es notwendig gemacht, die Welt hereinzulassen.“ (Markus Acher im Zündfunk-Interview)
The Notwist schaffen 2021 ein Album, dass nach nostalgischer Noblesse, feingliedrigen Arrangements, nach dem Tasten nach Neuem klingt. Und nach dem Bewusstsein, dass die Welt gerade etwas still steht: „Vertigo Days“ ist wie im Auto nachts durch Nebel fahren. Die Straßenlaternen leuchten, auf der Rückbank schaut man bewundernd auf das Draußen, dass zwar existiert aber nicht erkenn- und greifbar ist. Und man ist froh, dass Leute am Steuer sitzen, die einen gut durch die Nacht bringen.
„Vertigo Days“ von The Notwist erscheint am 29. Jänner 2021 bei Morr Music.
finde vor allem die kooperationen auf dem album sehr gelungen.