Hörenswert: Twin Tooth – „Cusp“
Avantgarde-Pop zwischen Wien und Berlin.
Mit „Cusp“ bringen Anna Kohlweis (Paper Bird, Squalloscope) und Jan Preißler (Vögel die Erde essen, Dino Paris & der Chor der Finsternis) alias Twin Tooth das Dark und das IDM und das Neo in den Pop und brechen eine experimentelle Lanze für so richtig guten Pop, der anders klingt als sein Ruf.
Hörenswert. RF-Album der Woche ist zu hören am Freitag, 2.9.22 ab 14.06 Uhr, Wiederholung am Donnerstag, 8.9.22 ab 00.00 Uhr
Die guten alten Pandemiejahre
„Cusp“ wurde aus der Distanz geschrieben, Kohlweis und Preißler trafen sich doch tatsächlich erst gegen Ende der Produktion das erste Mal persönlich. Der Kontakt bestand bereits einige Jahre, Preißler hatte für seine Band Waelder eine Stimme gesucht und bei Kohlweis gefunden. So entstand der Song „Cradle Coddle Coo“ rein via Internet und gleichzeitig eine krisensichere, pandemiefeste Arbeitsweise.
Im Metaraum, der nun bei der Albumproduktion entstand, trifft Privates auf Universelles und das Spezielle auf das Allgemeine. Ein zutiefst sphärisches Album, das dennoch tanzbar auf extremer Entschleunigung ist und das die Leichtigkeit aus der Krise filetiert. Die beiden Allrounder (Kohlweis ist Multimedia-, Musikvideo- und Fotokünstlerin, illustrierende Songwriterin und malende Musikerin, Preißler ist Multi-Instrumentalist mit Hang zu Electronic und Noise, Musikproduzent und Musiker) folgen dabei keiner fixen Idee sondern lassen sich scheinbar nur treiben, tun exakt das, was sie am besten können und verinnerlichen jeden einzelnen Teil des Albums – fast wie die perfekte Veräußerung der zutiefst intrinsischen Motivation der Musik.
If the wind picks up, I could be gone tonight
Die Stimme von Anna Kohlweis mäandert sich elegantest vokal durch die Soundgewebe von Jan Preißler und scheint auf dessen gelassenen aber treibenden Percussions zu tanzen. Alles verschmilzt zwischen Soul, HipHop, Conscious Rap, Wave, Elektro und IDM und lässt trotz der großen Sounds in die Kleinigkeit der Dinge blicken. So ist etwa „Gap Year“ eine Bauanleitung für ein nutzloses Werkzeug zur Verbindung zweier auseinanderdriftender tektonischen Platten. Ein Song für Festnetzleitungen und Echos verlorener Intimitäten, die irgendwo in der Luft liegen, während wir uns längst schon aus Vergangenem hinaustransformiert haben. „Serpent“ ist ein Liebeslied für das Risiko, hyperromantisch und waghalsig zerschneidet es die Sicherheitsnetze der Gefühlsakrobatik. Der zwischenmenschliche Raum, der sich nur durch das Kreuzen zweier oder mehrerer Wege auftut, stellt oft alles auf den Kopf und in der Schlage, die uns verschluckt hat, tauchen Twin Tooth nur noch tiefer.
What is there more beautiful than a living thing in transformation?
Das Album ist trotz des Distanz- und Krisenhintergrunds alles andere als nur Melancholie. Es strahlt vor Wärme und definiert die Veränderung als sichere Konstante. Minimal und dennoch majestetisch groß wirkt die Musik von Twin Tooth. Hier ist die wunderschöne Stimmung der Überdimensionalität in behutsamen, erfahrenen Händen.
„Cusp“ von Twin Tooth ist am 26. August 2022 bei Hall und Echo erschienen.
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