Hörenswert: Fragments II – Lili Boulanger
Boulanger goes Dancefloor.
13 zeitgenössische Elektronik-Künstler remixen in der zweiten Ausgabe der Fragments-Reihe Werke von Lili Boulanger. Dieses gewagte Unterfangen verwandelt Boulangers sphärische Kompositionen in unterhaltsame technoide und clubtaugliche Electro-Tracks. Klassik-Puristen werden sich wohl angewidert abwenden. Freunde der elektronischen Musik bekommen astreine Remixes voller Kreativität und Raffinesse.
Hörenswert. Das RF-Album der Woche ist zu hören am Freitag, 11.10.24 ab 14:08 Uhr, Wiederholung am Donnerstag, 17.10.24 ab 00:00 Uhr.
‘Nocturne’ (nächtlich) steht für ein verträumtes, sinnierendes Musikstück. Boulanger komponierte ihre ‘Nocturne’ im zarten Alter von 17 Jahren für Violine und Klavier. Die Violine findet Anfangs eine spärliche Klavierbegleitung vor, über die mit viel Raum die lyrische Hauptmelodie vorgetragen wird. Das klingt verträumt, sehnsüchtig und relaxed; der späten Stunde angemessen.
Im ‘Rework’ der Elektronik-Formation pølaroit arbeiten die zwei Künstler aus Hannover mit Fragmenten der Melodie und des Klavier-Ostinatos. Auch hier macht den Anfang die spärliche Klavierbegleitung, die von anschwellenden Synthie-Sounds untermalt wird. Ein kleiner Teil der Hauptmelodie wandert in den Bass. Und es dauert ganze achtundvierzig Sekunden, bis die Bassdrum die Viertel durchklopft und die Kategorie ‘Nocturne’ gänzlich im urbanen tanzbaren Clubsound erscheint.
elektronisch hochfrisierte, technoide Ambient-Nummern
Wir hören hier eine grandiose Transformation, in der die einzelnen Bruchstücke der ‚Nocturne‘ wie Artefakte aus ferner Vergangenheit erscheinen. pølaroit übernimmt auch die Changes des Originals und statt der Durchführung, wie es in der Klassik üblich wäre, vertiefen sich die Elektroniker in Soundscapes, bauen ein paar ‘drops’ ein, und arbeiten mit Filter und Leadsounds.
Vielleicht führt der Weg von ‘Fragments II’ vom Dancefloor zur Klassik, da es umgekehrt von Boulangers ‘Nocturne’ zum Rework von pølaroit ein sehr weiter Weg ist. Denn diese Reduktion der Melodie in eine brauchbare Bassdrum-taugliche Bassline nimmt der Musik ihre Mehrdimensionalität und sie bekommt so einen gänzlich neuen Charakter.
Der Ansatz von pølaroit ist wohl gleichzeitig die Grundidee dieser Remixes und Reworks, die mit Bruchstücken aus Boulangers Werk sehr eingängige und elektronisch hochfrisierte, technoide Ambient-Nummern basteln. Nur wenige der Remixes, wie die von Niklas Paschburg und Marta Cascales Alimbau, kommen dabei ohne durchgehende Bassdrum aus. Fragments II lebt dennoch von der Kreativität der Elektronik-Künstler, die hier ganze Arbeit geleistet haben.
Wer mit der Grundidee, die Musik von Boulanger in elektronische Unterhaltungsmusik zu verwandeln, etwas anfangen kann, ist wohl kein Klassik-Fan. Im Gegenteil: Denn mit Klassik haben die “Fragments II” höchstens ganz marginal etwas zu tun. Es ist nicht vergleichbar mit dem Charakter der ‘elektronischen Klassik’, die Komponisten wie Karlheinz Stockhausen, Edgar Varese oder Brian Eno entwickelten oder der Musik, die das fantastische, norwegische Label Rune Grammofon verlegt.
Das Wunderkind Lili Boulanger (1893-1918), die als erste Frau den hoch angesehenen ‘Prix de Rome’ gewann, verstarb mit nur 24 Jahren an einer schweren Lungenentzündung.
Fragments II ist am 1. September 2024 auf der Deutschen Grammophon erschienen.
Tracklist
- Nocturne (polaroit Rework)
- Sometimes I’m sad (Gryr Rework)
- Soleils de Septembre (Angara Rework)
- Reflets (il:lo Rework)
- Cortège (Niklas Paschburg Rework)
- Cortège (Fejká Rework)
- Cortège (Marta Cascales Alimbau Rework)
- Reflets (Rodriguez Jr. Evocation Remix)
- D’un Jardin Clair (Ann Clue Remix)
- The Sirens (JOPLYN Rework)
- Soir sur la plaine (Anja Schneider Remix)
- Reflets (Gryr Rework)
- D’un Jardin Clair (Keni Sakuda Remix)
- D’un vieux Jardin (Snorri Hallgrímsson Rework)
Lass' uns einen Kommentar da