Hörenswert: Patrick Wolf – „Crying The Neck“

„Crying The Neck“ ist eine Erzählung des Lebens von Patrick Wolf, dem Größten von allen.
Inspiriert von heidnischen Ernteriten, von lokaler Folklore und der malerischen Landschaft von East Kent ist Wolf ringend mit der Welt, in die man geboren wird, immer im Dialog und der Reflexion des eigenen Seins, mit all seinen goldenen Zeiten, genauso mit den Schattenseiten, die verlässlich immer wieder kommen.
Hörenswert. Das RF-Album der Woche ist zu hören am Freitag, 20.6.2025 ab 14:06 Uhr, Wiederholung am Donnerstag, 26.6.25 ab 00:00 Uhr.
No, it’s the sun in my eyes
Reminds me of a book i’ve been
Patrick Wolf ist einer jener Künstler, die immer wieder von vorne beginnen. Kein Album gleicht dem anderen, keine Geschichte ist dieselbe, keine Begegnung gibt es zweimal und nichts ist für immer. Das mag man unglaublich deprimierend finden oder furchtbar spannend, es ist definitiv immer ehrlich. Wolf ist einer der wenigen, der den Pathos nicht zu fürchten braucht, da er ihm steht – und immer wahrhaftig ist. Seine Auseinandersetzungen sind nie kurzlebig, alles hätte auch jetzt noch Relevanz, nichts ist flüchtig. Von den Spiel- und Täuscharten der Liebe über Transformation und der Kraft der Trauer fußt alles auf dieser ehrlichen, hundertprozentigen Hingabe.
„Crying The Neck“ bezieht sich auf einen Erntebrauch aus dem ländlichen England: ein Schrei des Abschlusses, des Neubeginns – der Moment, in dem der letzte Halm fällt. Wolf widmet es den unsichtbaren Dingen, die bleiben, wenn alles andere gegangen ist, Geister, Erinnerungen, Landschaften. Statt linearer Erzählung gibt es Kreisläufe, Jahreszeiten, ein Rad, das sich immer weiterdreht.
Tears in the soil, ghosts in the harvest
Patrick Wolf veröffentlichte 2003 sein Debütalbum Lycanthropy – eine wilde Mischung aus Folk, Elektronik und barockem Pop, und dennoch visionär. Wind in the Wires (2005) war eine karge Elegie aus Cornwalls Nebeln, The Magic Position (2007) ein grell schillernder Popsprung ins Licht. Es folgten politisch aufgeladene Werke wie The Bachelor (2009) und Lupercalia (2011), bevor sich Wolf mit der akustischen Werkschau Sundark and Riverlight (2012) leise zurückzog. Wolf ist Schöpfer der universellen alltime besten Hymnen über das Menschsein auf diesem Klumpen Erde und Metall („Penzance“, „The Libertine“, „Ouvertüre“, „Wind In The Wires“ und so viele andere, ich weine bald vor Schönheit!), Pop-Liebling, queere Lichtgestalt, Schöpfer von Gänsehaut-Klang und multiinstrumentales Wunderkind, Grenzgänger zwischen dem Unmöglichen.
„The Night Safari“ von 2023 ist die harte und doch fragile Reise zurück ins Leben nach Sucht, Krise, Bankrott, Genesung und schierem Überleben nach einem hit and run in Italien. „Crying The Neck“ erstarkt und zieht nun Fäden zwischen frühen Anfängen und einer neuen, geerdeten Ästhetik. Bariton-Ukulele, Dulcimer, Viola, analoge Drumcomputer. Ein Gespräch mit sich selbst, das endlich wieder geführt werden kann. Produziert im eigenen Gartenstudio in Ramsgate, gelingt es Wolf, Intimität nicht als Rückzug, sondern als Aufbruch zu inszenieren. Das kontrollierte stille Chaos eines Mannes, der wieder erlernt hat zu sprechen.
Gemeinsam mit Patrick Wolf leidet man nie lange, ohne eine schützende und erhabene Umarmung, die einen umfasst, wenn man sich traut, das Schreckliche zuzugeben. Und wenn alles vorbei ist, herrscht nicht Dunkelheit, sondern ertönt der Ernteschrei, die getane Arbeit, die Erlösung und der Triumph über die harte Zeit.
Das eine geht zu Ende, das andere beginnt
Auch wenn dazwischen sehr viel Zeit liegt, wie beim Opener: „Reculver“, ein Song, den der damals 16-Jährige schrieb, öffnet das Album mit der melancholischen Eleganz eines Ortes, an dem Vergangenheit und Gegenwart ineinanderfallen. Nach einem Jahrzehnt des Verstummens kehrt Wolf zurück – mit einem Album, das keine Rückkehr ist, sondern ein Übergang. Kein Paukenschlag, sondern ein Ernteschrei – und die Beats stammen noch von 1995. „The Last Of England“ ist eine Abrechnung mit einer Heimat, die bröckelt – nicht aus Hass, sondern aus enttäuschter Liebe. Er romantisiert seine Heimatstadt nicht ausschließlich und blickt durch die Linse der ökonomischen und migrantischen Krise, dessen Folgen er mit eigenen Augen miterlebt. „England is beautiful and rotten at the same time, and I am part of it.“ „Hymn Of The Haar“ ist der schwerste Track auf dem Album – nicht wegen der Instrumentierung, sondern wegen seiner Geschichte. Wolf beschreibt, wie er die Leiche eines geflüchteten Jungen sieht, an seinem üblichen writing spot, auf einer Bank an Englands Küste. „The next day, there was nothing, no mention in the press, the body was just taken away. It was like this ghost.“
„Crying The Neck“ reist bis hin zur Halbinsel Foreland an die Nordseeküste und findet im gleichnamigen Abschlusstrack des Albums seinen höchsten Aussichtspunkt, um die Vergänglichkeit wie auch das Fortschreiten des Lebens zu reflektieren. Ein Ausblick vom Klippenrand, kein Finale, mehr ein offenes Meer und ein offener Punkt. Mit dabei sind auch Größen wie Zola Jesus („Limbo“) und Serafina Steer („Lughnasa“) aber nicht als Highlights, mehr wie Wetterphänomene: flüchtig, atmosphärisch, entferntes Wetterleuchen.
But on the darkest night
I see most clear
Über allen musikalischen Experimenten und inhaltlichen Schwerpunkten thront Patrick Wolfs Schöpfergeist, nie versiegt, nie ausgelöscht. Man muss sich immer selbst mit dem eigenen Schrecklichkeiten auseinandersetzen. Aber Patrick Wolf nährt und gibt zu essen: „I love you too, the time is near“,
„Crying The Neck“ von Patrick Wolf ist am 13. Juni 2025 bei Apport erschienen.
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