Hörenswert: Calibro 35 – “Post Momentum”
Die italienische Funk-Band mit dem martialischen Namen veröffentlicht mit “Post Momentum” eine EP, die als Reflektion über die für alle Musiker ungemein schwierigen Zeiten gesehen werden kann. Nachdem ihre Tour mit dem Vorgänger “Momentum” in der Tasche im Januar 2020 aufgrund der Pandemie abgebrochen wurde, gilt dieses Album als strategische Antwort auf den status quo, der die Unwägbarkeiten des Musizierens überhaupt beinhaltet: Nicht jammern, einfach weiter machen.
Hörenswert. Das RF-Album der Woche ist zu hören am Freitag, 20.08.21 ab 14:08 Uhr, Wiederholung am Donnerstag, 26.08.21 ab 00:00 Uhr.
Calibro 35 steht seit 2008 für coole Musik mit Vorliebe für das Cineastische und einen Hauch von Retro in ihrem Klangcharakter. Und obwohl diese Band, die sich ihren Independent-Status immer erhalten hat, der breiten Masse kaum bekannt ist, wurden sie vom Hip-Hop-Großmeister Dr. Dre gesampelt und standen zusammen mit Bands wie Roy Ayers, Muse, dem Sun Ra Arkestra, Sharon Jones, oder auch den Headhunters auf der Bühne.
Als sich die Gruppe im Jahre 2007 formierte, sollte es lediglich ein Projekt sein, dass die alten italienischen Soundtracks aus Film und Fernsehen als Basis zu einigen Neuvertonungen nutzen wollte. Zu diesem Zweck scharte Mastermind und Grammy-Preisträger Tommaso Colliva (Muse) mit Enrico Gabrielli (PJ Harvey Mike Patton, John Parish), Massimo Martellotta (Stewart Copeland, Adrian Younge), Luca Cavina (Retox, Zeus), Fabio Rondanini (John Parish, Daniel Johnston) einige der renommiertesten Independent-Musiker Italiens um sich. 13 Jahre und ganze sieben Alben später hat sich dieses Projekt zu einem umjubelten Fixpunkt in der italienischen Musikszene entwickelt. Oder wie es der ‘Rolling Stone’ formulierte:
„the most fascinating, retro-maniac and genuine thing that happened to Italy in the last years“
Alle Bands dieses Planeten (insbesondere die, die sich als Live-Band definieren) leiden an einem Phänomen, einer Begleiterscheinung der Pandemie, das gerne mit ‘erlahmen’ bezeichnet wird. Dieses Erlahmen beschreibt einen Zustand, in dem das soziale Miteinander aufgrund von Ermüdungserscheinungen zum Erliegen kommt und die Sinnhaftigkeit überhaupt in Frage gestellt wird. Ob erfolgreich oder nicht; ob Klassik oder Pop; Garage oder Studio: die Pandemie lässt viele Bands einfach sterben, oder die musikalische Arbeit wird bis auf Weiteres einfach eingestellt, ohne dass eine Neuaufnahme in Sicht wäre. Viele Musiker sind gezwungen einer anderen Erwerbstätigkeit nachzugehen, da ihnen ihre Existenzgrundlage entzogen wurde.
Natürlich trifft es Calibro 35 nicht so hart wie die Musikschaffenden, die sich ihr Geld mit Unterrichten und Live-Gigs verdienen. Aber auch die Italiener mussten sich neu sammeln, als ihre Tour im Januar 2020 abgewürgt wurde. Das taten sie glücklicherweise musikalisch und veröffentlichen nun mit “Post Momentum” ein Album, das in seiner Entstehung die Strategie eines Roboters besitzt, was so viel meint wie die rein motorische Produktion eines Tonträgers, ohne Aussicht auf eine Tour und die Interaktion mit Publikum, und somit die Sinnfrage hinten anstellt.
“Post Momentum” ist gute 20 Minuten schmal und setzt sich aus Hip-Hop (Gastrapper sind Ensi und Ghemon), Funk und Jazz zusammen. Roter musikalischer Faden ist auch hier der cineastische Retrosound, der schon immer Grundlage dieser bemerkenswerten Band aus Italien war. Ein Muss für alle Cineasten und Liebhaber von raffinierter Funk-Musik der Post.Moderne.
“Post Momentum” ist am 11. Juni 2021 auf Record Kicks erschienen.
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