Hörenswert: Ghostpoet – „I Grow Tired But Dare Not Fall Asleep“
Jetzt ist die Dystopie amtlich, bescheinigt und bestätigt.
Der Professor of Pain, der Brite Obaro Ejimiwe alias Ghostpoet zieht auf „I Grow Tired But Dare Not Fall Asleep“ mit Sound, Wort und Resonanz in den düsteren Grusel-Wald der Realität, jedoch nicht ohne doch auch Spaß an der Dunkelheit zu haben.
Hörenswert. RF-Album der Woche ist zu hören am Freitag, 26.06.20 ab 14:08 Uhr, Wiederholung am Donnerstag, 02.07.20 ab 00:00 Uhr.
Urbaner Dystopie-Blues für Existenzangst, Beklemmung und Verzweiflung. Ghostpoet als Soul-Groover sitzt raunend im Mikrophon und beobachtet die gesellschaftlichen Platzwunden, die sich die Menschheit zuzieht. Spoken Word, jedes einzelne ein Treffer, ein Stich in das Mark der Zustände. Zwischen TripHop, Alternative Rock und Electronic fließen die Songs durch das Album, Musik, die in jeder Sekunde um Fassung ringt, aber mit unheimliche Dringlichkeit der Finsternis standhält.
Black Dog Got Silver Eyes
Nach den großartigen Platten „Peanut Butter Blues & Melancholy Jam“ (2001), „Shedding Skin“ (2015) und „Dark Day & Canapés“ (2017) ist „I Grow Tired But Dare Not Fall Asleep“ das 5. Studioalbum von Ghostpoet und hat gute Chancen, sich in den Erfolgsverlauf seiner Vorgänger einzureihen: Die „Peanut Butter …“ und „Shedding Skin“ wurden für den britischen Mercury Prize nominiert. Als heurige Bestandsaufnahme jedenfalls wäre das aktuelle Album mit Sicherheit das treffendste.
Ghospoet erzählt nicht Geschichten, er leitet uns mit wenigen Worten ohne Umschweife sofort in den jeweiligen Zustand. Hypnotisierend, mit Faszination auf das Unheimliche und das Darunterliegende, immer im richtigen Beat. Dazu klingen die Stimmen seiner Gastmusiker/Innen auf „I Grow Tired But Dare Not Fall Asleep“ wie die Stimmen aus einer Vergangenheit. Die Französin SaraSara, Polly Mackey alias Art School Girlfriend, Gitarrist Benjamin Markham von La Shark und Delilah Holliday von Skinny Girl Diet streifen mit Ghostpoet durch das düster-brütende Unterholz.
Count me out, I’m heading to Ecuador
Aufgewachsen im Süden Londons, jetzt mit Coffee Shop in Margate. Ghostpoets Soundtrack zur scheiternden Gesellschaft ist auch ein Spiegel der Heimat: die Klaustrophobie die der Brexit hinterlässt, der Aufstieg der Rechtsextremisten, soziale und finanzielle Verluste durch eine andauernde Kriese, die Zerrissenheit der Emotionen und Einsamkeiten. „I Grow Tired But Dare Not Fall Asleep“ ist der Zustand zwischen Unwohlsein, Angst, Ermüdung, Empörung und kurz vorm Aufgeben, schon nahe an der beruhigenden Resignation, die Situation ist schließlich nicht anders zu erwarten. Der Synth tropft wie durch ein verlassenes Haus, Piano und Orgel nervöseld vor sich hin.
Wie nachts im Bauhaus, kurz bevor Mechanik und Maschinen sich unheimlich zum Leben erheben.
Intensive Introspektion gepaart mit politischem Kommentar. Auf „I Grow Tired But Dare Not Fall Asleep“ ist nichts Pre oder Post, denn wir sind mittendrin. Im Opener „Breaking Cover“ geben rückwärts laufende Sounds, ein tiefer Bass und synthetisches Gefrinkel im Unterholz das Grundsetting: „It’s getting kinda complex these days“. „Rats in a Sack“ ist wie ein Aufbrechen im Gehölz, ein Aufbäumen gegen Rechtsextremisten ist ein „Let’s Get Out!“. „This Train Wreck Of A Life“ sieht wie sich Hass wie ein Parasit ins Gedächtnis gräbt und seinen Wirt in einen endlosen Tanz um seine Feindbilder tanzen lässt. Das Gefangen-sein in den Carnage Visors, „Gemetzelvisieren“ – dem Gegenteil von rosaroten Brillen, wie es The Cure mal so treffend definierte.
I’m alive, I wanna die
„I Grow Tired But Dare Not Fall Asleep“ ist wie eine Prophezeiung für den Spät-Kapitalismus. Brillant produziert, inhaltlich stringent und pointiert, in der paradoxe Thematik zwischen Isolation und Über-Kommunikation. Unheimlich vorausschauend. Wir sitzen währenddessen hören zuhause und fühlen das Selbe. Und fragen uns: Hat es so kommen müssen? “Home alone / ‘nother film / bottomless / so what becomes of me?”.
„I Grow Tired But I Dare Not Fall Asleep“ von Ghostpoet ist am 1. Mai 2020 bei Play It Again Sam (Rough Trade) erschienen.
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