Hörenswert: Sharon Van Etten – „Sharon Van Etten & The Attachment Theory“

Sharon Van Etten ist brachial, immer und kompromisslos.
Immer gräbt ihre Musik das Tiefliegende aus, jene Sicht auf die Dinge, die nicht die Naheliegende ist.
Das siebte Album mit und von „Sharon Van Etten & The Attachment Theory“ ist Post-Punk in all seiner Schönheit mit Reflexionen über das Festhalten an der Liebe inmitten apokalyptischer Umwälzungen.
Hörenswert. RF-Album der Woche ist zu hören am Freitag, 14.2.25 ab 14:06 Uhr, Wiederholung am Donnerstag, 20.2.25 ab 00:00 Uhr
Let it go. Let’s go!
Die Attachment Theory ist ein psychologischer und evolutionärer Rahmen, der sich mit den Beziehungen zwischen Menschen befasst und belegt, dass Menschen das angeborenes Bedürfnis haben, enge und von intensiven Gefühlen geprägte Beziehungen zu Mitmenschen aufzubauen. Und da haben wir den Schlamassel, und das gerade am Valentinstag. Obschon auch einen großartigen Albumtitel und (Begleit-)Bandnamen. Van Etten hat die zweite Hälfte ihrer Karriere bisher damit verbracht, sich von allem, was einer Komfortzone ähnelt, zu entfernen.
Der verrauchte Indie-Folk-Sound, den sie auf „Are We There“ (2014) bis zum Äußersten trieb, wich einer generellen Auszeit von der Musik und Van Etten widmete sich wieder einem Anfängerdasein, gab ihr Schauspieldebüt in der Netflix-Serie The OA, ging wieder zur Schule, um Psychologie zu studieren. 2019 kam sie mit „Remind Me Tomorrow“ zurück, mit atmosphärischen Synthesizern und geronnenem Grauen.
Die Band, The Attachment Theory, ist mehr als nur Begleitung. Jorge Balbi am Schlagzeug, Devra Hoff am Bass und Teeny Lieberson an den Keyboards sind Ko-Autoren dieser Reise, ihre Präsenz ist das Meer, über dem Sharon Van Etten mal wütet, mal sanft flirrt, mal meterhohe Welchen aufbaut und in die Tiefe stürzt. Produzentin Marta Salogni webt ein Netz aus analogen Klängen und elektronischen Texturen, das die Songs zusammennäht wie unsichtbare Fäden. Diese kratzen bezeiten, fordern und lehnen sich nur selten zurück, um den Zuhörys Verschnaufpausen zu gönnen. Der Wind zerrt an den Nerven und hebelt aus, was nicht niet- und nagelfest ist.

Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich die Band gefragt, ob wir einfach mal jammen könnten. Worte, die ich noch nie gesagt habe – nie! Doch ich liebte all die Sounds, die wir kreierten, und war neugierig: Was würde passieren? In einer Stunde schrieben wir zwei Songs, die später zu ‚I Can’t Imagine’ und ‘Southern Life’ wurden.
– Sharon Van Etten
Blow you kisses and take a pill.
Wenn sich „We’ve Been Going About This All Wrong“ von 2022 wie ein Zurückziehen, eine Sehnsucht nach dem inneren Diwan und dem weg von äußeren Katastrophen anhörte, ist das neue Album ein ähnlicher Neuanfang – in die entgegengesetzte Richtung. Warum sollte man sechzehn Jahre nach einer unglaublichen Solokarriere eine Band gründen? Warum eigentlich nicht? Sharon Van Etten ist präsenter als zuvor und zelebriert das Verlassen der Komfortzone weniger als Entschließung des Mutes, sondern als Akt der Befreiung.
Die Liebe, das Leben und deren Schluchten und Höhen bleiben, doch der Ausdruck ist stürmischer und unruhiger, groovt eher neugierig durch die Stimmungen und erkundet Mantra-artig die Motive. Mit „Sharon Van Etten & The Attachment Theory“ startet ein Experiment und Van Etten schreibt erstmals gemeinsam mit ihrer Band. Ein radikaler Schritt in der Arbeitsweise und ein neuer Zugang quasi im freien Fall: Kontrollaufgabe und Bindung in einem. Daraus entstehen völlig neue Klangkonzepte und musikalische Wege, Ungehörtes findet hier den Weg an die Oberfläche.
Who wants to live forever? It doesn’t matter.
Das wiederholt sie immer wieder auf dem atemberaubenden Opener „Live Forever“ während Synthies von Keyboarderin Lieberson wie Irrlichter den Weg weisen. Ein finster glimmendes Statement. Elektrisierendes White Noise mit hektischer Dringlichkeit. Ein bisschen Existenzialismus zum Einstieg und ein ironisches Schulterzucken, weils ja wirklich keine Rolle spielt.
„Afterlife“ ist einem verstorbenen Freund und Fan gewidmet und spiegelt die Größe und Weite von „Seventeen“ (auf Remind Me Tomorrow 2019) wider, mit visueller Huldigung an die Gothic-Queen Siouxsie Sioux. Hier pulsieren Synthie-Beats um Text und Melodie und verzichten auf die traurige Schwere, blickt lieber euphorische auf das Nachleben: ‚Turned me inside out and now I find/I want to see you in the afterlife‘.
„Trouble“ hat diese typische, Van Etten’sche Melancholie, man weiß ganz genau, dass man grad bis zum Hals in Problemen steckt aber hat sich auch irgendwie damit arrangiert und wartet geduldig, bis das Ende des Problems kommt. Denn eines ist sicher: Es wird kommen. Und wenn nicht, gibt es immer noch Sharon Van Etten & The Attachment Theory, die sich da ganz genau auskennen und die Probleme einfach wegreißen.
„I Can’t Imagine (Why You Feel This Way)“ ist ein spiky Post-Punk-Workout im Dicokugellicht, „Southern Life (What It Must Be Like)“ ist der Versuch, Menschen oder Kinder mit unterschiedlichen Perspektiven zu verstehen. „Somethin‘ Ain’t Right“ ist tanzbar, trotzig und zitiert die Talking Heads, mit zuversichtlichem Blick in den Abgrund. Van Etten ist die wütende Prophetin, die sich von nichts und niemandem aufhalten lässt und vom durchgehenden Synth-Ostinato ihrer Band begleitet wird.
The test is: You must try.
Der Sound von Sharon Van Etten & The Attachment Theory ist düster, doch nie erdrückend; intensiv, aber nie überladen. Es ist ein Album für schlaflose Nächte, für Momente, in denen man sich fragt, warum eigentlich alles so verdammt kompliziert ist. Irgendwie ist es auch die Antwort darauf: Es ist nicht einfach. Es ist nicht nett. Aber genau deshalb ist es großartig.
Wenn Van Etten schließlich die volle Kraft ihrer beherrschenden Stimme aufbringt, dann im atemberaubenden Schlussstück „I Want You Here“, in dem sie klagt: ‚And I want you here / Even when I feel like a curse / And I want you here / At the edge of the earth‚. Liebe in Zeiten der Welt, die in Flammen steht. Denn wenn, dann ist es Sharon Van Etten, die selbst hier noch Mystik in den alten Themen Liebe, Leben und Tod findet und noch für Gänsehaut sorgen kann, wenn alle schon völlig abgestumpft vor der Idiot Box sitzen.
„Sharon Van Etten & The Attachment Theory“ von Sharon Van Etten ist am 7. Februar 2025 bei Jagjaguwar erschienen.
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