Artarium: Der große Schaspreis
Sonntag, 28. Juni 2020 ab 17:06 Uhr (WH am Mo, 29.6. ab 14:06 Uhr):

Der Preis ist heiß. Eigentlich dampft er noch. Und auch wenn es sich nicht um den großen Schaspreis (oder eine andere staatliche Heißluft) für Literatur handelt, geht es rund um den Wörtersee meist mit einiger Erregung zur Sache. Denn die Veranstaltung, die schon im Jahr 2000 nicht mehr “Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb” heißen durfte, war ja von Anfang an als fernsehgerechte Show konzipiert, als ein unterhaltsames Theater der Literaturkritik. In einem der zahllosen Artikel des deutschsprachigen Feuilletons, die Tag für Tag während des laufenden Wettlesens erschienen sind, hat man uns immerhin einige der bisherigen Bachmannpreis-Erregungen nachgereicht. Es haben eben auch alle tagesaktuell bemarkteten Verwurstwaren ihre jeweils sehr eigenen Geschichten…
…durch welche sich die Geschichte erst wirklich lebendig erzählen lässt. Nicht, dass wir mit der diesjährigen Preisträgerin Helga Schubert nicht einverstanden wären! Ihre spezielle Bachmannpreisgeschichte begann bereits 1980, als sie aus Gründen der DDR nicht teilnehmen durfte – und Sten Nadolny sein Preisgeld zu gleichen Teilen auf alle Autor*innen aufteilen ließ, weil er befand, dass “Literatur nicht Gegenstand von Wettbewerben sein sollte.” Seine daraus entstandene “Entdeckung der Langsamkeit” ist überhaupt eine unverzichtbare Kritik am herrschenden Immernochschneller und Immernochmehr. Das wäre ja auch die große Chance von Corona-Lockdown und Digital-Distancing, endlich zur Besinnung zu kommen im Hinblick auf die kranken (und kränkenden, im Wortsinn krank machenden) Ziele und Werte, mit welchen die Weltbevölkerung zum Zweck ihrer besseren Beherrsch- und Verwertbarkeit fortlaufend neu infiziert wird.
Publikumspreisträgerin Lydia Haider und gebenedeit – Die Viren sollen krepieren
Der große Schaspreis kann jedoch auch das Strafgeld für einen beamtshandelten Darmwind bedeuten. Wie bitte, was? Wenn jeder Schas klagbar wäre, dann liefen (lauferten) doch ein Haufen Politwichteln, Religionskoffer und Finanzhoudinis (um hier nur einige anzuführen) hoch verschuldet in der Landschaft herum. Oder geht es darum, aus welcher Öffnung des Körpers die heiße Luft entweicht? Ob man bloß ein Arschloch hat – oder ob man eines ist? Vielleicht hat Martin Luther auch den ersten Satz des Johannesevangeliums verkehrt übersetzt und es müsste heißen: “Im Anfang war der Sinn.” Weil da steht ja Logos – dann bräuchten wir uns fürderhin nur noch mit dem Sinn von Vorschriften und Gesetzen zu beschäftigen…
Höchste Zeit für einen gepflegten Exorzismus mit Torsten Sträter
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Neueste Blogeinträge
Nachträglich
“Nachträglich” gratuliert man zum Geburtstag, “im Nachhinein” gibt man mitunter ein noch fehlendes Dokument ab, “im Nachgang” werden auch noch so komplexe Ereignisse analysiert – und “nachtragend sein” hat eine entschieden negative Bedeutung. Genau deshalb werden wir euch diesmal einiges von dem “nachtragen”, was in letzter Zeit quasi liegen geblieben ist. Die Zumutung besteht nicht nur darin, dass der letzte Sonntag dieses Monats auf den 28. Februar fällt, sondern dass wir alle inzwischen seit gut einem Jahr im Ausnahmezustand vegetieren. Und dabei offenbar von so schlechten Schauspielern “regiert” werden, dass dagegen sogar die Familie Putz kompetent wirkt. Doch der Reihe nach …
Radiohead schrieben in den 90ern einen Song, der weltweit zu einer Art Hymne für alle Außenseiter wurde, wie speziell die Unplugged-Version von KoЯn deutlich macht. Die Letzten sind längst die Ersten, die Verletzten sind längst die Ärzte – und auch die Außenseiter sind längst die Insider. In einem gewaltfreien Dialog auf Augenhöhe, in einer Demokratie also, ist das Zusammenwirken von Verletzten und Ärzten zum Zweck der Gesundheit längst verwirklicht. Oder?
Tom Liwa hat sich eines weiteren Songs aus den 90ern angenommen (mit dem wir damals geradezu totgedudelt wurden) und zelebriert mit seinem REMCOVER die hohe Sprachkunst der Textübertragung. Endlich verstehen wir etwas von dem, was einst überall irgendwie schön klang, bis es ob seiner Inflation nur mehr zuviel war. Die blöde Propaganda vom unendlichen Wachstum elegant entzaubert. Chapeau!
Leonard Cohen war immer schon ein lyrischer Kritiker der herrschenden Verhältnisse (Verhältnisse der Herrschenden). Seine “Songs of Love and Hate”spannten auch immer schon einen Bogen von der Unterwerfung (in persönlichen Beziehungen) zur Unterdrückung (im politischen Geschehen). Misha Schoeneberg hat “Democracy” mit “Gerechtigkeit” übersetzt, und das ist nicht nur vollinhaltlich im Sinne des Autors, sondern auch absolut zutreffend. Worin leben wir eigentlich?
Michael Köhlmeier hat ebenfalls Songs aus dem Englischen übersetzt – und trägt selbige mit musikalischer Begeisterung vor. Allerdings diesfalls (wie einst mit Reinhold Bilgeri zusammen) in bester Vorarlberger Mundart. Nachträglich zu unserer Sendung “Das finstere Tal” hören wir eine Liveaufnahme seiner Nachdichtung von Lou Reeds“Walk on the Wild Side” (vom Krebshilfe-Benefizkonzert 2012 in Dornbirn).
Und Angelo Branduardi, dem wir unlängst ein “ganzes Album” gewidmet haben, soll auch noch mit seinen neueren “Übertragungen” zu hören sein, haben wir ihn doch geradeals jemanden erkannt, der Musik und Text aus vergangenster Zeit ins Hier und Heute, in unsere lebendige Gegenwart schreibt, spielt und singt. Wie zum Beispiel die fast 1000 Jahre alten Kompositionen der multitalentierten Klosterfrau Hildegard von Bingen.
Nachträglich ein Vorgeschmack sozusagen.
Hakuna Mutanta
Die Idee zu dem titelgebenden Wortspiel verdanken wir einer Szene aus dem Disney-Epos “König der Löwen”, die ewig Junggebliebenen werden sich erinnern, “Hakuna Matata” ist Swahili und heißt soviel wie “Es gibt keine Probleme.” Hier zur Entspannung die polnische Variante. Nun mag “Hakuna Matata” für den Hausgebrauch eine ebenso nützliche Philosophie sein wie “Probiers mal mit Gemütlichkeit”, nichtsdestotrotz leben wir in verseuchten Zeiten und draußen vor der Tür mutieren die Viren, dass einem schwindlig wird. Zeit, dem Leben auch unter veränderten Bedingungen wieder eigeninitiativ entgegen zu treten. Etwa mit John Steinbeck, Bruce Springsteen und Tom Morello. “The Ghost of Tom Joad” stellt einmal mehr die Frage: Was will uns der Dichter damit sagen?
Und überhaupt, was will uns die derzeitige Situation sagen, die wir zwar nicht direkt verändern, aber durchaus wahrnehmen, verstehen und zum Anlass für unsere eigene Geschichte nehmen können? Was mutiert da alles vor sich hin, wenn wir “das Virus” als das begreifen, was es in seinem Wesen zutiefst ist: Information, die bei kleinster Veränderung bereits völlig neue Eigenschaften ausbildet? Die sich, wie im Fall des Influencer (Grippe) Virus jedes Jahr “in einem völlig anderen Gewand” zeigt? Mutieren nicht auch ganze Gesellschaften sowie ihre Staatsformen und Wirtschaftssysteme auf ähnliche Weise? Bisweilen kommt es mal zu einer Revolution gegen Gewalt und Unterdrückung – an der zugrunde liegenden Information wird etwas verändert und schwuppdiwupp – das gewalttätige Machtkonstrukt hat einen neuen Namen, aber es besteht weiter, erzählt viel von Freiheit und unterdrückt anders – oder Andere.
Seit Jahrhunderten wird immer wieder aufs neue an einem Impfstoff gegen diese Art von Machtmutation gearbeitet, er heißt Demokratie, und er muss genauso ständig weiter entwickelt werden, wie das Machtvirus, schwuppdiwupp, vor sich hin mutiert. Der Vortrag “Demokratie erneuern” von Prof. Rainer Mausfeld bietet einen Einblick in diese Vorgänge. Sein erster Abschnitt trägt den Titel: “Das gesellschaftliche Gift unersättlicher Machtgier und das zivilisatorische Gegengift Demokratie.” Schön! Und wie wir unter diesen Vorzeichen leben können – und wollen, das entwickelt Prof. Hartmut Rosa in seiner “Soziologie der Weltbeziehung” rund um den essentiellen Begriff “Resonanz”. Zum Schluss unserer heutigen Mutation noch die entsprechende Literatur/Filmempfehlung: Früchte des Zorns. Macht macht mobil …
PS. Das Virus und das Immunsystem. Von Karl Lauterbach auch für “interessierte Nichtspezialisten” empfohlen. Na ja, ein bisserl Fachenglisch sollte man da schon …
Angelo Branduardi
Bella Italia! Und überhaupt haben Italiener die schöneren Vornamen. Nicht Sepp (hüstel), Dietmar (gähn) oder Sebastian (würg) – vielmehr Dino (mmmh), Mario (mmhmmmh) oder eben Angelo (leckerlecker). Allein die Vorstellung, in sexueller Extase laut “Franz Ferdinand” zu rufen, sollte uns das verdeutlichen. Dann doch lieber “Michelangelo” – oder seid ihr denn alle komplett unmusikalisch? Wie dem auch sei – Italien gilt jedenfalls nicht grundlos als “Land der Oper” (und ist ob seines musikalischen Reichtums berühmt). Das zeigt sich auch im Klang der Sprache. Die seit Jahrhunderten unerreichtesten Geigen bauten folgerichtig die Herren Stradivari und Guarnieri del Gesù und nicht Niederredner und Klotz. Alles eine Frage der Musik, so wie unser heutiges Album.
Angelo Branduardi ist ein zutiefst in der Musik beheimateter Künstler, der in Zusammenarbeit mit seiner Frau Luisa Zappa (ja wirklich, und du bist mein Sofa!) ständig neue Einflüsse (oft aus uralten Traditionen) über die Zeitläufe hinweg verschmilzt. So ist “Confessioni di un Malandrino”, seine erste Eigenkomposition (mit 18 Jahren), aus einem Gedicht des russischen Lyrikers Sergej Jessenin (1895 – 1925) entstanden. Eine Zeit lang, speziell in den 80er und 90er Jahren, waren seine Lieder auch hierzulande ziemlich populär. Kritiker sprachen von “weichgespültem Schmusesound” und sahen den spirituell veranlagten Künstler, der seine Arbeit selbst als “schamanisch” bezeichnet, im eher unernsten Umfeld des “esoterischen Wohlfühlkitsch”. Doch das wird der Vielfalt an Themen keinesfalls gerecht, die Angelo Branduardi in seinen nunmehr 50 Jahren als Vollblutmusiker ver- und bearbeitet hat. Der Mann springt aus dem Genreschachterl!
Im Rahmen des Projekts “Futuro Antico” sind inzwischen 8 Alben mit historischer Musik erschienen, darüber hinaus reicht Branduardis Passion für “Musik aus längst vergangener Zeit” von Walter von der Vogelweide über Franz von Assisi bis hin zu Hildegard von Bingen (auf dem aktuellen Album “Il cammino del’Anima” zu hören). Neben dem erwähnten Gedicht von Sergej Jessenin hat er noch zahlreiche Texte von anderen Poeten vertont und vorgetragen, so etwa auf “Branduardi Canta Yeats”.
Wir destillieren allerdings einen Auszug des typischen Angelo-Branduardi-Sounds. Balladen und Motive aus allen möglichen Epochen und Welten in Gestalt moderner Folk-Rock-Performance.
Pandemie. Nein, Poesie!
Ein lyrischer Kosmos besteht aus einem Urknall von Ideen und den zahllosen Möglichkeiten der Gestaltwerdung. Ein lyrischer Kosmos bildet sich durch wiederkehrende Wiederholungen von immer wieder neuen Variationen seiner endgültigen Form, die aber nie endgültig sein wird, zumal bereits wieder eine neue Variation in ihre Verwirklichung drängt. Fortwährend sich veränderndes Schaffen an ein und derselben Ursprungsidee (die zumeist nicht einmal klar erkannt und benannt werden kann), das ist Schöpfung als Dauerzustand. Und jedes einstweilige Endergebnis, das von uns betrachtet und beschrieben wird, ist Poesie. Ist ein Lied, ein Bild, ein Gedicht, ein Musikstück – oder die durchdachte Kombination von Verschiedenem zu der einen gemeinsam lebendigen Darbietung.
Vor langer Zeit suchte mich einmal ein junger Mensch auf, um seine Sprachlosigkeit zu überwinden, die ihn immer dann befiel, wenn seine Freundin ihn fragte: “Was denkst du gerade?” Ich riet ihm, in diesen Augenblicken alles zu vergessen, was er sein wolle oder von dem er glaubte, es sein zu sollen oder zu müssen – und statt dessen einfach das zu sagen, was ihm als erstes in den Sinn käme. “Aber wie find ich das?”, war die berechtigte Nachfrage darauf. “Stell dir vor, du kannst mit deiner Hand durch deinen Mund ganz weit in deinen Bauch hinunter greifen. Dort packst du dann das Gefühl, das du gerade hast, holst es wieder durch den Mund heraus – und beschreibst es ihr.” Die beiden hatten daraufhin, wie ich erfuhr, überaus intensive romantische Erlebnisse. Und so gesehen ist jeder Mensch ein Dichter (eine Dichterin!). H. C. Artmann hatte umfassend recht: “Der poetische Act”. Die Güte und Gediegenheit des Gefühlten, Gedachten, Gedichteten erwächst aus der zunehmend bewussten Wiederholung. Und dann gibt es auch noch Sprachbegabung, Sprachverliebtheit und die sich bis zur Bessenheit steigerbare Ausdruckslust – in den unendlichen Weiten der Poesie.
An der Selektionsrampe des Warenhaus International stehen schon die Schergen der Marktwirtschaft und sortieren unsere Äußerungen nach deren Verwertbarkeit. Während sie sich durch unser Intimstes wühlen, erkennen wir einander und das Leben, das wir sind. Der, den mein Freund kannte begleitet uns dabei. Und mit ihm viele, deren Dichtung Wahrheit ist und nicht zum Kommerz verzweckt sein soll…
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