Poesie und Eigenart
Perlentaucher Nachtfahrt am Freitag, 10. November um 22:06 Uhr
Du wachst plötzlich auf und befindest dich mitten in deinen ersten Lebenstagen. Was hast du erlebt? Wie fühlt es sich an, gerade eben erst neugeboren zu sein? Schön, wenn es für dich irgendwie schön war. Für mich war es schrecklich. Auf einmal krieg ich eine verstopfte Nase und bekomme keine Luft mehr. Und ich denke: “Ob ich das damals auch schon so überlebt hab?” Eigentlich wollte ich mich ja fragen, ob ich das damals auch schon so ähnlich erlebt habe, doch auf dem Weg zur Formulierung hat sich das Wort unmerklich verwandelt und ich muss lachen. Das ist keine bizarre Fehlleistung, das ist Poesie. Wer vermag zu sagen oder wie wollte man “definieren”, wodurch so ein sprichwörtlich “verdichteter Augeblick” zustande kommt und wie man ihn fasst?
Damit verhält es sich wohl so ähnlich wie mit Kochrezepten. Natürlich lässt sich minutiös beschreiben, was in einer Torte enthalten ist und wie sich welche Aromen zum erhofften Ergebnis verbinden sollen. Doch ob es dann auch so schmeckt, wie man es sich erwartet hätte? Worin genau besteht jene Qualität, die in Ausrufen wie “Das ist mit Liebe gemacht” gipfelt? Oder noch besser “Diese Torte ist ein Gedicht”? Das bloße Aneinanderreihen von Anweisungen (und wenn diese noch so korrekt befolgt werden) führt noch lange nicht zu einem Ergebnis, von dem man sagen könnte, dass es gut riecht, gut schmeckt, gut ausschaut oder sich überhaupt irgendwie (vorzugsweise gut) anfühlt. Es kommt mir so vor, als steckten wir in einer Welt von Kochrezepten fest. In einer Welt voller Menschen, die daran glauben, dass das richtigrum Runterradeln von Backanleitungen und (hier verlassen wir die Metapher) Verhaltensvorschriften der Sinn des Lebens sei. Das erachte ich allerdings für eine erhebliche Entgleisung dessen, was am Leben an sich lebenswert ist. Nämlich, dass es sich anfühlt. Dass es riecht, dass es schmeckt, dass es klingt, dass es leuchtet, dass es unterzugehen droht, dass es übersteht, dass es flüstert, dass es poltert – und dass es sich reimt.
Womit wir dann auch schon mitten drin wären – in dem, was wir hier so veranstalten und – indem wir es für uns selbst ausüben, allerohrs “zu Gespür bringen”. Nämlich unsere Textcollage “Radio ist Resonanz”, die wir für den 25. Geburtstag der Radiofabrik entwickelt haben – und die wir in dieser Sendung ganz neu überarbeitet und zweihasenstimmig vortragen werden. Live vor unserem unsichtbaren Publikum und fein garniert mit der wunderbaren Musik von Nils Petter Molvaer. Warum wir das tun? Weil es sich reimt. Und weil für uns schon das Proben Poesie erzeugt.
“Der Begriff bedeutet im übertragenen Sinn eine bestimmte Qualität. So spricht man etwa von der Poesie eines Moments oder einem poetischen Film und meint damit, dass von dem Bezeichneten eine sich der Sprache entziehende oder über sie hinausgehende Wirkung ausgeht, etwas Stilles, ähnlich wie bei einem Gedicht, das eine sich der Alltagssprache entziehende Wirkung entfaltet.” (Wikipedia)
Das eigenartige daran ist, dass sich diese Kunst unmittelbar auf einen übertragen kann. Dass sie einem “zu Herzen geht” wenn sie “von Herzen kommt”. So bedeutet eigenartig mehr “aus sich selbst heraus entwickelt” – und nicht “seltsam und verschroben” (obwohl der Sprachgebrauch dies in seiner oft abwertenden Tendenz nahelegt). Irgendwann hab ich angefangen, die verdrehte Weltsicht der Wertvorgaben wieder zurück auf die Füße zu stellen und zum Beispiel das Wort EigenArt nur noch so zu schreiben (und somit umzudenken) im Sinne von SelbstKunnst. Mit zwei N assoziiert sich das dann zu Möglichkeit. Und schon kann allerhand passieren, woran du nicht einmal im Traum zu glauben gewagt hast. Die erschreckende Erkenntnis, dass du nie das bekommen hast, was du von Anfang an gebraucht hättest. Nicht irgendeine Sache in einer bestimmten Situation, das wäre zu banal. Sondern gespürt zu werden, willkommen geheißen und bejaht, bestätigt. In all deiner Eigenart – in dem, wer, wie und was du bist. Und die unvorhergesehene Begegnung mit einem unbekannten Kind, auf das du instinktiv genau so reagieren kannst, wie damals nie auf dich reagiert worden ist. Resonanz zu erfahren, so erklärt das jedenfalls Hartmut Rosa, setzt eine grundlegende Antwortbereitschaft voraus.
Frequenz, Resonanz, Poesie.
Sendungen zum Nachhören
Poesie und Eigenart (Perlentaucher CLVI)
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Eine Sendung, die der Ambivalenz gewidmet ist. Diesmal noch deutlicher als sonst eh schon meist. “Sowohl als auch” anstatt “entweder oder”, jedenfalls in der Anschauung der Welt, in der wir leben und die wir sind. Wir mögen das flirrende Zwischen im Ineinander von diesem und…
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“Die alljährliche Ambivalenz im Salzburger Festspielsommer mit all ihren Chancen und Risiken und vor allem Nebenwirkungen beschäftigt uns naturgemäß auch heuer. Ein Gefühlsbild unseres Befangenseins zwischen dem möglichen Theaterglück und dem rundum erschallendem Kommerzwahnsinn. Niemand, der in Salzburg lebt, bleibt von diesem “Sowohl als auch”…
Flüchtiges Glück im Sonnenland (Perlentaucher CLII)
Das Sonnenland ist das, was uns in der sommerlichen Jahreszeit begegnet. Glücksmomente jedweder Beschaffenheit: Laue Nächte, Schatten unter Bäumen, Baden am Fluss, Nacktheit in der Natur, Vogelgezwitscher, Blumen, Freunde, Wind in den Haaren, Überraschendes und Vertrauen in einer warmen Welt. Beseligende Berührungen eines leichteren Lebens,…
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